Prävention (lat. praevenire „zuvorkommen“, „verhüten“) hat das Ziel, durch geeignete Maßnahmen ein Risiko zu verringern bzw. ein schädliches Ereignis abzuwenden. Die Grenzen zwischen Prävention und Intervention können dabei fließend sein.
Die Entwicklung einer Haltung, in der Schutz gelebter Alltag ist und die Überwindung von individueller und institutioneller Sprachlosigkeit sind die zentralen Ziele der Prävention von sexualisierter Gewalt.
Die Präventionsarbeit wird bis heute geprägt durch die Berichte und das unermüdliche Engagement Betroffener, sich in die gesamtgesellschaftlichen Prozesse der Aufarbeitung und Prävention einzubringen. Ihrem Mut des Aussprechens ist es zu verdanken, dass Strategien von Tätern und Täterinnen, innerfamiliäre und systemische Dynamiken ebenso wie die oftmals traumatischen Folgen erkannt werden konnten. Sie sind bis heute die Grundlage für die Entwicklung von Präventionsansätzen und den Aufbau von Angeboten der Beratung und Unterstützung.
Es ist dem Mut der vielen Betroffenen zu verdanken, die das eklatante Fehlen von Schutz in Institutionen deutlich gemacht haben, dass das Ausmaß endlich ans Licht gekommen ist. Jedoch ist das Dunkelfeld noch nicht ausreichend beleuchtet.
Die Prävention sexualisierter Gewalt nutzte schon früh ein von Caplan (1964) für die Sozialpsychiatrie entwickeltes Modell der Differenzierung von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention.
Primäre Prävention hat das Ziel, sexualisierte Gewalt zu verhindern.
Institutionelle Maßnahmen, die diesem Ziel zugordnet werden können sind Schutzkonzepte, sexuelle Bildung, Präventionsprojekte, Sensibilisierung, Schulungen oder der Verhaltenskodex.
Als präventive Erziehungshaltung wird dieses Ziel erlebbar im Respekt gegenüber Kindern, weil sie dadurch ihren Wert erleben. Bedingungslose Liebe und Wertschätzung lässt Kinder erfahren, dass sie sich Liebe und Achtung nicht durch Leistung und Wohlverhalten verdienen müssen. Das Zutrauen in ihre Selbständigkeit macht Kinder selbstbewusst und verringert Abhängigkeiten.
Sekundäre Prävention bezeichnet Interventionen, die den Missbrauch beenden und langfristig zur Aufarbeitung der Gewalterfahrung beitragen. Der Kreislauf der Gewalt und das erhöhte Risiko für traumatische Folgestörungen werden unterbrochen.
Institutionelle Maßnahmen, die diesem Ziel zugeordnet werden können sind Ansprechpersonen, Interventionsbeauftragte, professionelle Risikoeinschätzungen, Handlungsleitfäden, arbeits – und strafrechtliche Schritte, Beratungsangebote und Therapiemöglichkeiten.
Als Haltung zeigt sich sekundäre Prävention in der Bereitschaft zuzuhören und zuzulassen, dass sexualisierter Gewalt auch in der eigenen Familie, dem eigenen Umfeld oder der eigenen Einrichtung passieren kann. Sie zeigt sich darin, Verantwortung für den Schutz Betroffener zu übernehmen.
Tertiäre Prävention richtet sich auf die Folgeschäden sexualisierter Gewalt. Hierzu zählen die therapeutische Versorgung Betroffener und die institutionelle und/oder juristische Aufarbeitung.
Therapeutische Angebote für Täter und Täterinnen haben ebenfalls das Ziel eine Wiederholung der Taten zu verhindern. Die Rehabilitation einer fälschlich beschuldigten Person ist ein weiterer Aspekt nachhaltiger Prävention.
Alle pädagogischen Einrichtungen und Dienste, in denen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene lernen, leben oder ihre Freizeit verbringen, haben einen gesetzlichen / institutionellen Schutzauftrag, der sie verpflichtet, für die psychische und physische Integrität der ihnen Anvertrauten zu sorgen sowie ihnen Schutz, Sicherheit und Vertrauen zu bieten.
Kinder, Jugendliche und erwachsene Schutzbefohlene müssen optimalen Schutz, angemessene Beteiligungsmöglichkeiten und eine größtmögliche Förderung ihrer Entwicklung erfahren.
Diese Haltung schafft – verbunden mit dem Wissen über Täter und Täterinnen, ihre Strategien und gewaltbegünstigende Faktoren in Institutionen – die Grundlagen zur Entwicklung institutioneller Standards zum Schutz für Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene.
Die institutionelle Prävention beinhaltet die Entwicklung eines Schutzkonzepts, in dem auf Basis einer einrichtungsspezifischen Risikoanalyse Standardbausteine der Prävention passgenau auf die jeweilige Einrichtung angewendet werden. Schutzkonzepte müssen in einem partizipativen Prozess mit allen Beteiligten entwickelt und implementiert werden. In der Risikoanalyse werden bauliche, strukturelle, inhaltliche und persönliche Risikofaktoren transparent. Jeder Arbeitsbereich wird darauf „abklopft“, was diesbezügliche Stärken und Schwächen sind. Strukturen und Prozesse zur Prävention von jeder Form sexueller Gewalt, insbesondere sexuellem Missbrauch, sollen transparent, nachvollziehbar und kontrollierbar gestaltet und weiterentwickelt werden. (In Anlehnung an Arbeitshilfe – Hinsehen- Handeln- Schützen – Erzbistum Hamburg)
2003 entwickelte der Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen e.V. gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erste Qualitätsstandards für die Präventionsarbeit. Der Bundesverein war ein
Zusammenschluss von Frauen und Männern, die in Institutionen oder als freiberufliche Expert*innen zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen arbeiteten.
Der Bundesverein definierte folgende Ziele der Präventionsarbeit:
„Prävention soll langfristig zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen beitragen. Kurzfristig will sie eine schnelle Beendigung akuter Übergriffe ermöglichen und Schutz vor weiteren Gewalthandlungen veranlassen. Mittelfristig will sie die sekundäre Traumatisierung der Opfer minimieren.“
Die 2003 formulierten Standards der Präventionsarbeit haben bis heute nicht an Bedeutung verloren:
„Jede Berufsgruppe und Institution hat spezifische Aufgaben, Handlungsmöglichkeiten und Grenzen, die erst in abgestimmter Kooperation optimale Präventionsarbeit ermöglichen. Nur Vernetzung ermöglicht eine sinnvolle Koordinierung, Bündelung und Schwerpunktsetzung von gleich gelagerten Präventionsinitiativen unterschiedlicher Träger.“
Sexualisierte Gewalt in einer Institution ist eng verbunden mit dem Vorhandensein struktureller Gewalt. Strukturelle Gewalt zeigt sich in der Kultur einer Organisation. Sie wird erkennbar in der Art wie Führung gelebt und Zusammenarbeit im Team gestaltet wird. Sie zeigt sich in der Feedback- und Fehlerkultur, bei der Konfliktklärung, in den Bereichen Personalentwicklung und in der Kommunikation.
Grundsätzlich tragen diese Bereiche zur erfolgreichen und wirksamen Arbeit in Institutionen bei. Sind sie jedoch von struktureller Gewalt gekennzeichnet, ist das Risiko für sexualisierter Gewalt und andere Formen von Gewalt signifikant erhöht.
Es ist Aufgabe von Führungs- und Leitungskräften die Kultur einer Institution so zu prägen, dass Prävention gelebter Alltag wird. Erst dann wird der Schutz der Würde und der Integrität von Minderjährigen und erwachsenen Hilfe- und Unterstützungsbedürftigen selbstverständlich. Diese Aufgabe ist nicht delegierbar.
Führungs- und Leitungskräfte können ein institutionelles Klima schaffen, in dem ein respektvoller, wertschätzender und gewaltfreier Umgang miteinander möglich ist. Sie sind Vorbilder für ein angemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis und wachen über die Einhaltung eines professionellen Nähe-Distanz-Verhältnisses zwischen Mitarbeitenden und der jeweiligen Zielgruppe. Sie sind für die Umsetzung von Handlungsleitlinien und Schutzkonzepten verantwortlich.
Wenn Prävention eine alltägliche Haltung ist, erfahren Kinder im Kontakt mit ihren Bezugspersonen in der Familie und in den Institutionen, Respekt und Schutz. Sie entwickeln in den Begegnungen ein Gefühl von Selbstwert und Grenzbewusstsein. Diese Stärkung von Kindern beginnt schon auf dem Wickeltisch.
Ihr Recht auf ein gewaltfreies Leben umzusetzen ist kein Projekt, sondern eine dauerhafte Haltung. Sie zeigt sich in der Art wie Menschen sich begegnen. Im Vorhandensein schützender Strukturen und Prozesse und der Erkenntnis, dass Prävention individuelles und organisationales Lernen bedeutet.
„Handle so, dass der Raum der relevanten Möglichkeiten für dich und dein Gegenüber größer wird.“
Matthias Varga von Kibéd
Text: Carmen Kerger-Ladleif, Mary Hallay-Witte
Caplan, G. Principles of preventive psychiatry. New York 1964 zit. in Marquardt-Mau, B. (Hrsg.) Schulische Prävention gegen sexuelle Kindesmisshandlung 1995, S. 10 – 14 ff.
Zugriff 01.09.2022
S.10. Zugriff 01.09.2022
Zugriff 01.09.2022